Früher mussten Kinder lange mit Fehlbildungen im Gesicht leben. Heute gibt es Methoden, diese Krankheitsbilder schon frühzeitig zu korrigieren.
Wenn die embryonale Entwicklung in der Frühschwangerschaft gestört ist, können diese Fehlbildungen die Folge sein. Für Betroffene hat dies mehrere Belastungen zur Folge. Einerseits sind psychosoziale Auswirkungen für die Kinder zu verzeichnen. Andererseits haben sie gesundheitliche Probleme: mit der Atmung, der Nahrungsaufnahme, dem Gehör und der Sprache. Hier hilft Dr. Hubertus Koch vom Kompetenzzentrum für Lippen-, Kiefer-, Gaumen-, Nasenfehlbildungen der Kinderklinik Siegen den Betroffenen und ihren Eltern mit einem speziellen Behandlungskonzept.
Welches sind die häufigsten Fehlbildungen im Kiefer und Gesichtsbereich?
Dr. Koch: Lippen-Kiefer Gaumen-Nasen-Fehlbildungen (LKGN-Fehlbildungen) treten bei etwa einem von 500 Kindern auf; sie ist die zweithäufigste angeborene Fehlbildung. Normalerweise verschmelzen in den ersten zehn Schwangerschaftswochen die einzelnen Elemente von Lippe, Kiefer und Gaumen miteinander. Bei Störungen dieser Prozesse können Lippe, äußere und innere Nase, Oberkiefer, Gaumen oder Gaumensegel gespalten sein. Außerdem gibt es noch isolierte Fehlbildungen des weichen und harten Gaumens sowie der Nasenscheidewand oder ein- oder beidseitige LKGN-Fehlbildungen.
Was haben diese Fehlbildungen für Auswirkungen auf die Kinder?
Bei einer Gaumenspalte ist der Mundraum entweder gar nicht oder nur unvollständig vom Nasen-Rachen-Raum getrennt. Dadurch kann ein Baby den notwendigen Unterdruck für das Saugen in der Mundhöhle nicht herstellen, es verschluckt sich häufig. Außerdem lassen sich in einem offenen Mundraum schlecht Laute bilden – das Sprechenlernen wird deutlich schwieriger. Die Kinder atmen häufig durch den Mund, weil die Nasenhöhle zur Mundhöhle offen ist – dadurch trocknet die Nasenschleimhaut aus und ist anfällig für Infekte. Ist das Mittelohr in Mitleidenschaft gezogen, werden die Kinder eine Zeitlang schwerhörig, ihre Mimik und damit die nonverbale Kommunikation sind gestört.
Wann kann man erkennen, dass eine solche LKGN-Fehlbildung vorliegt?
Schon der Ultraschall in der Schwangerschaft kann bei ausgeprägten Fehlbildungen erste Hinweise geben. Einzelne Gaumenspalten erkennen wir oft erst nach der Geburt. Der Arzt sieht sie erst beim Blick in die Mundhöhle oder kann sie ertasten.
Werden solche Fehlbildungen immer vererbt?
Hier sind die Ursachen noch nicht ausreichend erforscht. Wahrscheinlich ist eine Kombination aus erblichen und äußeren Faktoren. Diskutiert werden hier aktuell zum Beispiel Ursachen wie Sauerstoffmangel, Stress oder Medikamente wie Kortison während der Schwangerschaft.
Wie kann eine Frau in der Schwangerschaft dann solchen Beeinträchtigungen vorbeugen?
Man geht aktuell in der Wissenschaft davon aus, dass sich insbesondere Vitamin B und Folsäure positiv auf die gesunde Entwicklung des Gesichtes auswirken. Weil die Fehlbildungen des Kopfes in der sehr frühen Schwangerschaft entsteht, sollten Frauen diese Präparate am besten bereits nehmen, wenn sie einen Kinderwunsch haben, also vor Eintritt der Schwangerschaft.
Was zeichnet das von Ihrem Vater und Ihnen entwickelte morphophysiologische Behandlungskonzept (MPL nach Koch) aus?
Das MPL-Verfahren schafft die Voraussetzungen dafür, dass sich ein Kind mit einer angeborenen Fehlbildung im Gesicht möglichst normal entwickeln kann. Einerseits operieren wir in exakt definierten Zeiträumen. Andererseits wählen wir bei den Eingriffen aus zahlreichen Schnittführungen nur die aus, welche die fehlgebildeten Strukturen entlang der fehlerhaften Verwachsungslinien auftrennen und aus ihrer Zwangslage lösen.
In welchen Zeiträumen operieren Sie?
Schon kurz nach der Geburt trennen wir Mund- und Nasenhöhle provisorisch mit einer eingesetzten Kunststoffplatte. Später, etwa ab dem sechsten Lebensmonat korrigieren wir den Kiefer, harten und weichen Gaumen und die innere Nase. Mit dem achten Monat beginnen wir, Lippe und äußere Nase nach ästhetischen und funktionellen Aspekten operativ wieder herzustellen.
Wie oft wird ein Kind mit einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte dann operiert?
Wenn alles sich gut entwickelt, reichen die Eingriffe im ersten Jahr. Ziel ist es, alle Korrekturen ausgeführt zu haben, bis das Kind laufen kann. Manchmal müssen wir um das sechste Lebensjahr noch einmal Knochen im Kieferbereich transplantieren, wenn etwa die Zähne zu wenig Platz haben. Regelmäßig begradigen wir im Jugendalter den Nasenrücken und die Nasenscheidewand.
2013 wurde das LKGN-Kompetenzzentrum an der DRK-Kinderklinik Siegen von der TK-Krankenkasse in den Zirkel: „Spitzenmedizin in NRW“ aufgenommen.
DRK-Kinderklinik Siegen
Die DRK-Kinderklinik in Siegen hat eines der bundesweit ersten Kompetenzzentren für Lippen-, Kiefer-, Gaumen-, Nasenfehlbildungen in der Bundesrepublik Deutschland aufgebaut. Hier arbeiten seit über zehn Jahren Experten verschiedener Berufsfachgruppen interdisziplinär zusammen.
Jährlich operieren die Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgen etwa 100 bis 120 Kinder mit isolierten oder kompletten Lippen-Kiefer-Gaumen-Nasen-Fehlbildungen. Im Zentrum steht dabei das MPL-Konzept, entwickelt von Prof. Josef Koch. Die Patienten kommen aus dem gesamten Bundesgebiet nach Siegen.
Dr. Hubertus Koch – Leiter des Kompetenzzentrums LKGN an der DRK-Kinderklinik Siegen
http://www.drk-kinderklinik.de/kompetenzzentrum-lkgn/was-wir-machen/
Quelle: DRK-Kinderklinik
Fotos: Studio Schmidt-Dominé, mit freundlicher Unterstützung der Techniker Krankenkasse