Wenn die Schnäppchenjagd außer Kontrolle gerät

In Siegen gründet sich eine Selbsthilfegruppe zum Thema „Kaufsucht“

Symbolbild: Pixabay

Siegen. Die schöne goldene Uhr, ein neues Kleidungsstück oder das allerneueste Smartphone: Die Verlockungen der Konsumwelt sind dank Rund- um-die-Uhr-Werbung, Null-Prozent-Finanzierungen und Schnäppchen-Aktionen allgegenwärtig. Und viele Menschen kaufen mehr, als sie wirklich brauchen. Doch bei manchen wird das Shoppen regelrecht zum Zwang – oft mit fatalen Folgen. Dann spricht man von Kaufsucht. In Deutschland ist laut Schätzungen etwa jeder Zwanzigste gefährdet.

Anna K. und Erik S. (Namen geändert) haben erlebt, was es heißt, die Kontrolle über das eigene Kaufverhalten zu verlieren. Mit Gründung einer neuen Selbsthilfegruppe in Siegen wollen sie eine Anlaufstelle für Menschen schaffen.

Eine Kaufsucht von „normalem“ Kaufverhalten zu entscheiden, kann anfangs schwierig sein. Von Betroffenen und Angehörigen wird das Problem oft erst spät erkannt – auch, weil (Ein)kaufen zunächst mal eine alltägliche Notwendigkeit und als solche gesellschaftlich akzeptiert ist. Auch bei Anna K. hat sich die Sucht schleichend entwickelt. Nach privaten Schicksalsschlägen habe sie oft alleine zu Hause gesessen, erzählt die 32-Jährige. Aus Langeweile und um sich von ihrer Traurigkeit abzulenken, geht sie immer öfter mit dem Handy im Internet shoppen – vor allem Kleidung, aber auch andere Dinge, mit denen sie meint, „sich etwas Gutes zu tun“. „Mit jedem Kauf war ich erst mal glücklich. Man lebt schließlich nur einmal“, sagt sie – doch der „Kick“ ist schnell verflogen, das berauschende Glücksgefühl nur vor kurzer Dauer. „Meist hatte ich schon gleich danach ein ungutes Gefühl“, berichtet Anna K., „das schlechte Gewissen, dass ich das, was ich da bestellt habe, im Grunde doch gar nicht brauche.“

Schlimmer wiegt noch, dass sich Anna K. die bestellte Ware bald nicht mehr leisten kann. Da sie ihre Online-Käufe in der Regel per Kreditkarte abwickelt, verliert sie vollends den Überblick über ihre Ausgaben: „Die Sachen waren ja schon da, aber noch gar nicht bezahlt.“ „Buy now, pay later“, zu Deutsch „Kaufe jetzt, bezahle später“, lautet die bequeme Form der Finanzierung, die dazu verführt, sich zu verschulden. Anna K. häuft so binnen eines Jahres mehrere Tausend Euro an. Es kommt, wie es kommen muss: Irgendwann ist das Konto leer, das Kreditlimit ausgeschöpft, sind alle Karten gesperrt. Anna K. ist zu diesem Zeitpunkt längst klar, dass sie ein Problem hat. Ihr privates Umfeld habe sie damit aber nicht belasten wollen. Aus Scham, so erzählt sie, versteigt sie sich sogar in Notlügen gegenüber Eltern und Freunden, wiegelt Fragen wie „Hast Du das neu?“ ab.

Eines Tages läuft im Fernsehen ein Beitrag zum Thema Kaufsucht. „Da hat es bei mir Klick gemacht“, erzählt Anne K. Nicht zuletzt mit Hilfe ihrer Familie kommt sie wieder in die Spur. Ihr Kaufverhalten, sagt sie, habe sie seitdem „gut im Griff“. Ihre Schulden zahlt sie nun Stück für Stück in Raten ab, viele ihrer gekauften Sachen habe sie inzwischen wieder verkauft. Außerdem spart sie Geld auf einem Tagesgeldkonto. Heute weiß sie um die Tücken der glitzernden Einkaufswelt: „Man rutscht da ganz schnell in was rein.“

Auch bei Erik S. hat es lange gedauert, bis er sich in einer psychosomatischen Klinik professionell helfen ließ. Der 63-Jährige sieht die Veranlagung für seine Kaufsucht in der Kindheit. Als Säugling wurde er wegen einer Krankheit monatelang von seiner Mutter getrennt. Zeitlebens plagen ihn Depressionen und Verlustängste, denen er begegnet, indem er zwanghaft Dinge sammelt und hortet. „Ich kaufe Klamotten, damit ich in Notzeiten welche habe“, sagt er. Und: „Ich kann nichts weggeben.“ Auch bei Erik S. steigt die Gefahr einer Kaufattacke bei Einsamkeit, Frust und Langeweile. Er habe dann das Gefühl, dieses „emotionale Defizit“ ausgleichen zu müssen. „Wenn ich dann ein Angebot mit 70 Prozent Preisnachlass sehe, setzt bei mir der Verstand aus. Dann wiederum gibt es Dinge, die fressen sich einem regelrecht ins Gehirn rein – die muss man dann unbedingt haben.“ Obwohl er in seinem Beruf gut verdient habe, seien auch ihm die Schulden irgendwann über den Kopf gewachsen, erzählt der 63-Jährige weiter. „Ich habe andere Betroffene kennengelernt, die haben sogar bis drei oder vier Jobs angenommen, um ihre Kaufsucht zu finanzieren – und trotzdem hat es nicht gereicht, die Familie zu Hause zu versorgen.“

Dass sich Kaufsucht unterschiedlich äußern kann, weiß Silke Sartor von der Selbsthilfekontaktstelle der Diakonie in Südwestfalen: „Es kann Jüngere wie Ältere treffen, Frauen wie Männer.“ Experten beobachten dabei durchaus ein geschlechterstereotypes Einkaufen: Frauen shoppen gerne Kleidung, Schuhe, Kosmetik und Dekosachen, Männer dagegen eher im Technik- oder Baumarkt. Nicht selten zeigen sich Zusammenhänge mit psychischen Problemen und Erkrankungen (z.B. Depressionen, Angststörungen) oder auch mit anderem Suchtverhalten (z.B. Esssucht oder Spielsucht). Erik S. hat seine Kaufsucht zwar nicht gänzlich überwunden, doch bei einer Psychotherapie und einer speziellen Reha vieles gelernt – etwa „dass man Sachen auch wieder weglegen oder Gekauftes zurückbringen kann, oder dass man von der Kaufentscheidung noch mal rausgeht aus dem Geschäft, Luft schnappt, vielleicht auch jemanden anruft und um Rat bittet“. Gerade für Letzteres könnten Kontakte in einer Selbsthilfegruppe sehr wertvoll sein, findet Erik S. „Eine Kaufsucht macht aus Dir keinen schlechten Menschen. Aber es ist wichtig, sich helfen zu lassen, je früher, umso besser. Ohne Hilfe geht es nicht!“ Dies gilt dieser Tage umso mehr, wo mit dem enormen Anstieg der Preise auch die Gefahr wächst, dass Menschen mit Kaufsucht in die Schuldenfalle laufen. Erik S. bringt es mit Selbstironie auf den Punkt: „Für Schnäppchenjäger wie mich sind es schlechte Zeiten.“ Betroffene, die in einem geschützten Gesprächskreis frei und anonym über ihre Kaufsucht sprechen und sich austauschen möchten, können sich an die Selbsthilfekontaktstelle der Diakonie in Südwestfalen unter Telefon 0271/500 3131 melden oder sich per E-Mail an selbsthilfe@diakonie-sw.de wenden.


Infokasten
Kaufsucht (Oniomanie) gilt offiziell nicht als eigenständige Krankheit. Sie zählt, im Unterschied etwa zu Alkohol- oder Drogensucht, zu den nicht stoffgebundenen Süchten. Fachleute sprechen auch von einer Verhaltenssucht oder als „Störung der Impulskontrolle“. Betroffen sind Menschen aller Einkommensklassen und Altersgruppen, nach bisherigem Stand der Forschung jedoch eher Frauen als Männer und eher Jüngere als Ältere. Kennzeichnend ist der wiederholte Kontrollverlust beim Einkaufen, der sich häufig auch schubweise in Kaufattacken zeigt. Den Betroffenen geht es dabei in der Regel weniger um das Produkt oder die Dienstleistung, sondern um den Kaufvorgang selbst, der ihnen ein kurzzeitiges Glücksgefühl beschert. Die gekauften Waren werden weggelegt, versteckt, gehortet oder entsorgt. Eine Kaufsucht beginnt meist schleichend – als mögliche Auslöser gelten negative Gefühlszustände wie Langeweile, Stress, Einsamkeit, Traurigkeit, Neid, ein geringes Selbstwertgefühl sowie Konflikte mit der Familie oder Freunden. Pathologisches Kaufen hat – im Gegensatz zu anderen Süchten – den Nachteil, dass man nie völlig abstinent sein kann. Kaufsucht birgt die Gefahr, irgendwann vor einem Schuldenberg zu stehen und sich vom sozialen Umfeld zu isolieren. Teilweise kommt es sogar zum Bruch mit Lebenspartner, Familie und Freunden. Bei einer fortgeschrittenen Kaufsucht wird in der Regel zu einer Verhaltenstherapie mit einem Psychotherapeuten geraten.

Quelle: Diakonie

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